Ernährungsberaterin: „Vegan ist ungesund“ nur ein Mythos?

Text: Sabine Gräfe, zertifizierte Vegane Ernährungsberaterin (ecodemy)

Die meisten Menschen setzen sich mit dem, was sie täglich verzehren, nicht auseinander. Geschmack, schnelle Zubereitung und Preis bestimmen die Auswahl. In dem Moment, in dem eine deutlich andere Form der Ernährung ins Spiel kommt, entsteht aufgrund des damit einhergehenden Informationsaufwandes und der erwarteten Unbequemlichkeit einer Umstellung schnell ein ganzer Strauß an Vorbehalten und Widerständen.

Viele Menschen, die sich mit der Idee einer veganen Ernährung befassen, haben neben den befürwortenden ethischen, ökologischen und sozialen Gründen bereits eine Menge Warnungen, Zeitungsüberschriften und Stammtischmeinungen gesehen oder gehört und sind dementsprechend verunsichert.

Um in diesem Meinungs- und Ratschlags-Dschungel zurecht zu kommen, macht es Sinn, sich an einfachen, wissenschaftlichen Fakten zu orientieren, die den Mythos „vegan ist ungesund“ schnell zu Fall bringen. Die großen internationalen Ernährungsgesellschaften haben in ihren Positionspapieren aufgenommen, dass eine gut geplante vegane Ernährung nicht nur gesundheitlich machbar, sondern darüber hinaus auch sowohl in Prävention als auch teilweise in Therapie von ernährungsmitbedingten Krankheiten (Zivilisationskrankheiten) eingesetzt werden kann.

Jede Ernährungsform steht und fällt damit, ob sie vernünftig durchgeführt wird. Cola und Pommes sind auch vegan, aber damit kommt man nicht weit. Eine Ernährung sollte vollwertig sein, also so wenig verarbeitete Lebensmittel wie möglich beinhalten. Außerdem sollte sie nicht einseitig, sondern bunt und abwechslungsreich sein.

Was ist eine artgerechte Ernährung?

Sie muss uns alle Stoffe liefern, die wir selbst nicht herstellen können. Diese Nährstoffe werden für die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen, also Energie, Baustoffe und Stoffwechselvorgänge, benötigt. Hierbei liegt der Fokus nicht darauf, ein kurzfristiges Überleben zu sichern, sondern ein langes und gleichzeitig gesundes Leben zu ermöglichen.

Die grundsätzlich energieliefernden Nährstoffe sind Kohlenhydrate, Fette und Proteine. Sie erfüllen eigene Funktionen, können aber alle zur Energiegewinnung herangezogen werden.

Vitamine und Mineralstoffe brauchen wir für Stoffwechselvorgänge und Abläufe von Körperfunktionen. Mineralstoffe stammen aus dem Erdboden und werden von Pflanzen aufgenommen. Tiere nehmen sie wiederum aus Pflanzen oder Wasser auf. Pflanzen bilden die Mehrheit der Vitamine. Ausnahme ist vor allem Vitamin B 12, das weder von Pflanzen noch von Tieren, sondern von Mikroorganismen gebildet wird.

Darüber hinaus gibt es noch sogannte bioaktive Substanzen. Hierbei handelt es sich vorrangig um sekundäre Pflanzenstoffe und Ballaststoffe. Sie sind zwar nicht lebensnotwendig, aber sie bringen einen nicht zu unterschätzenden Benefit für unsere Gesundheit. Diese Stoffe kommen ausschließlich in Pflanzen vor.

Ohne meist selbst Fachkenntnis über Nährstoffe zu haben, denken viele Menschen, dass bei einer veganen Ernährung Proteine, Eisen und Kalzium nicht ausreichend zugeführt werden können und Vitamin B 12 und D supplementiert werden müssen. Gerade letzteres wird zum Anlaß genommen, eine vegane Ernährung als unnatürlich einzustufen.

Schauen wir uns also die Nährstoffe und hierbei vor allem die als kritisch eingeschätzten Nährstoffe einmal an.

Ernährung

Proteine

Proteine oder Eiweiße bestehen aus Aminosäuren. Von den ca. 320 bekannten Aminosäuren können 21 zur Bildung von Proteinen benutzt werden. Und nur 9 davon müssen wir tatsächlich mit der Nahrung aufnehmen. Die zugeführten Proteine werden in der Verdauung wieder zu Aminosäuren zerlegt und neu zu körpereigenen Proteinen zusammengefügt.

Hauptfunktion: Baustoff für Gewebe (z. B. Muskeln), Zellaufbau, Bildung von Enzymen, Hormonen, Botenstoffen und Antikörpern.

Gute Proteinlieferanten: Hülsenfrüchte (reich an Lysin), Getreide (reich an Methionin), Pseudogetreide (Amaranth, Quinoa), Nüsse (Mandeln, Walnüsse), Samen, Sprossen, grünes Blattgemüse, Brokkoli, Avocado, Karotten, Tomaten

Tipp: Bei der Zufuhr der Proteine sollten sich hinsichtlich des Aminosäureprofiles gegenseitig ergänzende Lebensmittel kombiniert werden. Das sind z. B. Hülsenfrüchte mit Getreide. Dies kann im Laufe des Tages passieren und muss nicht in einer Mahlzeit erfolgen. Eine vollständige Abdeckung aller essentiellen Aminosäuren mit einer Ebenbürtigkeit zu Eiern und Milch liefern für sich alleine Soja, Quinoa, Buchweizen, Chiasamen, Hanf, Spirulina.

Kohlenhydrate

Kohlenhydrate sind Einfach- oder Mehrfachzucker. Es gibt sie in unterschiedlichen Formen. Sie werden von Pflanzen durch Photosynthese hergestellt, aber auch unser Körper ist in Zeiten fehlender Zufuhr in der Lage, Glukose selbst herzustellen. Dies geht über das Ausleeren der entsprechenden Speicher bis hin zur Nutzung anderer Makronährstoffe, die dann ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr wahrnehmen können. Es macht also Sinn, dem Körper regelmäßig seinen „Treibstoff“ zuzuführen.

Hauptfunktion: Lieferung von Energie.

Gute Kohlenhydratlieferanten: Kartoffeln, Getreide, Pseudogetreide (Quinoa, Amaranth, Hirse), Hülsenfrüchte

Tipp: Am günstigsten sind die Mehrfachzucker, die in unserem Verdauungstrakt nur nach und nach aufgespalten werden können. Diese kommen in den Pflanzen als Stärke vor. Ungünstig sind raffinierte Zucker z. B. in Form von Haushaltszucker, der sehr leicht aufgenommen werden kann und so den Blutzuckerspiegel rasch ansteigen lässt.

Fette

Fette bestehen aus Fettsäuren mit unterschiedlich langen Kohlenstoffketten. Wir können den Großteil der unterschiedlichen Fettsäuren, wie auch Cholesterin, selbst herstellen. Eine zusätzliche Zufuhr dieser Fette wirkt sich wenig förderlich bis ungünstig für unsere Gesundheit aus. Nicht selbst herstellen können wir mehrfach ungesättigte Fettsäuren wie Omega 3 und Omega 6.

Hauptfunktion: Lieferung und Speicherung von Energie, Baustoff in Zellwänden, Produktion von Hormonen

Gute Fettlieferanten: Ölsaaten/-samen (Leinsamen, Chiasamen, Hanfsamen), Avocados, Nüsse, Pflanzenöl (sparsam), angereichertes Mikroalgenöl (DHA/EPA)

Tipp: Die tägliche Zufuhr sollte nur 30 % der Nahrungsenergie ausmachen. Dabei sollte der Schwerpunkt auf einfach und mehrfach ungesättigten Fettsäuren (Omega 3, DHA/EPA) liegen. Außerdem sollten verarbeitete/gehärtete Fette gemieden werden.

Eisen

Eisen ist ein Mineralstoff, der in verschiedenen Formen vorkommt und weltweit der größte Mangelnährstoff ist. In tierischen Organismen kommt er als Häm-Eisen vor. Aufgrund seiner Struktur ist es leichter aufnehmbar, was jedoch nicht bedeutet, dass es damit auch gesünder ist. Eine hohe Zufuhr von Häm-Eisen steht im Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs. In Pflanzen liegt es als Nicht-Häm-Eisen vor. Es gibt sowohl Stoffe, die die Aufnahme erschweren als auch Stoffe, die die Aufnahme deutlich fördern. Ein wesentlicher Faktor ist hierbei der Eisenstatus.

Hauptfunktion: Transport von Sauerstoff im Blut, wichtige Rolle für Immunabwehr und Gehirnfunktion

Gute Eisenlieferanten: Hülsenfrüchte ((Soja-)Bohnen, Linsen, Kichererbsen), Nüsse (Pistazien, Mandeln, Haselnüsse), Ölsaaten (Sesam, Kürbiskerne, Hanf, Leinsamen, Kakao), Vollkorngetreide (Haferflocken, Dinkel), Pseudogetreide (Hirse, Amaranth, Quinoa), Gemüse (Grünkohl, Rucola, Feldsalat, Zucchini), Trockenfrüchte (Aprikosen, Pfirsiche, Datteln)

Tipp: Kaffee/Tee nicht zu den Mahlzeiten trinken, dem Essen für eine bessere Aufnahme Vitamin C zufügen.

Kalzium

Kalzium ist der mengenmäßig bedeutendste Mineralstoff im menschlichen Körper. Er ist ein Grundbaustein von Knochen und Zähnen. Die meisten Menschen halten Kuhmilch als unverzichtbaren Lieferanten von Kalzium. Allerdings ist 3/4 der Weltbevölkerung nach dem Abstillen laktoseintolerant. Die Rolle von Kuhmilch ist also völlig untergeordnet. Kalzium kommt über das pflanzliche Futter in die Tiere und wir können es ebenfalls sehr gut aus Pflanzen zu uns nehmen. Das Kalzium in Pflanzen ist vielfach gleichwertig, in vielen Pflanzen teilweise doppelt so stark wie in Kuhmilch bioverfügbar enthalten. Wie auch bei Eisen gibt es einige Stoffe, die die Aufnahme hemmen oder fördern.

Hauptfunktion: Baustoff für Knochen und Zähne, Blutgerinnung, Muskelkontraktion, Reizübertragung im Nervensystem

Gute Kalziumlieferanten: dunkelgrünes Blattgemüse (Brokkoli, Grünkohl, Pak Choi, Rucola), Wildkräuter (Löwenzahn, Brennnesseln), Hülsenfrüchte (Kichererbsen, Soja), Trockenfrüchte (Feigen, Datteln), Samen (Sesam, Chia, Hanf, Mohn), Nüsse (Mandeln, Paranüsse), Pseudogetreide, Mineralwasser (> 400 mg/l)

Tipp: Kaffee/Tee nicht zu den Mahlzeiten trinken, dem Essen Vitamin C zufügen, Kalziumzufuhr über mehrere Mahlzeiten verteilen.

Ernährung

Vitamin B12

Vitamin B 12 wird weder von Pflanzen, noch von Tieren sondern, von Mikroorganismen gebildet. In Pflanzen kommt es nicht in nennenswerter Menge vor, bei Tieren in größeren Mengen in den Innereien, vor allem in der Leber. Da Innereien selten auf dem Speiseplan stehen und die Aufnahme von Vitamin B 12 durch verschiedene Faktoren gestört sein kann, ist ein Mangel nicht so selten, wie angenommen und keinesfalls auf Veganer begrenzt. Der Körper kann Vitamin B 12 für einen gewissen Zeitraum (ca. 3 – 5 Jahre) speichern. Ein Mangel kann zu irreversiblen Schädigungen (z. B. Blutarmut, neurologische Störungen) führen.

Hauptfunktion: DNA-Synthese, Zellteilung, Blutbildung, Gehirn- und Nervenfunktionen, bestimmte Abbauprozesse (Entgiftungen)

Gute Vitamin B 12-Lieferanten: Supplemente, angereicherte Lebensmittelprodukte, Algen oder Zahnpasta können unterstützen

Tipp: Status regelmäßig (jährlich) durch geeignete Bluttests (Holo-TC) prüfen. Synthetische Formen wie Cyanocobalamin werden vom Körper genauso gut verarbeitet, wie die natürlichen und aktiven Formen. Bei gestörter Aufnahme kann die Aufnahme in Form von Lutschtabletten hilfreich sein.

Vitamin D

Vitamin D produzieren wir vorrangig selbst. In unseren Breitengraden (meist zu wenig UVB-Strahlung) und bei unserem Lebensstil (Haut durch Kleidung bedeckt, verstärkter Aufenthalt in Räumen) reicht die Eigensynthese jedoch oft nicht aus, weshalb Vitamin D ein kritischer Nährstoff für die Gesamtbevölkerung ist. Über die Nahrung könnte er über eine tägliche Portion Lebertran oder fetten Seefisch gedeckt werden, was jedoch unrealistisch ist.

Hauptfunktion: Knochengesundheit, Kalziumstoffwechsel,  Immunabwehr, Krebsprävention, Muskelfunktionen

Gute Vitamin D-Lieferanten: Eigensynthese bei idealen Umständen, Supplemente, angereicherte Lebensmittel können unterstützen

Tipp: Inzwischen gibt es bioaktives Vitamin D 3 auch aus Pflanzen (Flechten).

Ballaststoffe

Ballaststoffe sind unverdauliche Mehrfachzucker in den Zellwänden der Pflanzen. Sie haben zwar keinen Nährwert, u. a. binden sie jedoch Fremd-/Giftstoffe, verbessern die Darmgesundheit, sorgen für Sättigung und einen konstanteren Blutzuckerspiegel. 3/4 der deutschen Bevölkerung erreicht die empfohlene Aufnahmemenge nicht. Veganer liegen in der Regel sogar deutlich über der Mindestempfehlung.

Gute Ballaststoff-Lieferanten: Obst, getrocknete Früchte, Gemüse,Vollkornprodukte, Nüsse, Samen und Hülsenfrüchte

Sekundäre Pflanzenstoffe

Sekundäre Pflanzenstoffe sind Abwehr-, Farb- und Duftstoffe der Pflanzen. Sie können auch beim Menschen wichtige Funktionen erfüllen: Steigerung der Abwehrkräfte, Schutz vor Infektionen mit Pilzen, Bakterien oder Viren, Senkung des Cholesterinspiegels, Senkung von Blutzucker und Blutdruck und Vermeidung von Gefäßverstopfungen und sogar Vorbeugung von Krebs.

Gute sekundäre Pflanzenstoffe-Lieferanten: Gemüse, Obst, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Nüssen sowie Vollkornprodukte

Es gibt keinen Nährstoff, der sich ausschließlich in Tieren befindet.

Sämtliche Nährstoffe stammen aus Pflanzen und können auch von uns direkt, ohne den Umweg über das Tier, aufgenommen werden. Allein Vitamin B 12 sollte zwingend supplementiert werden. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass den Tieren in der Mast neben weiteren Mineralstoffen und Vitaminen auch Vitamin B 12 oder der Ausgangsstoff Cobalt supplementiert wird.

Indem wir tierische „Produkte“ vermeiden, nehmen wir sehr wenig gesättigte Fette, kein Cholesterin (das wir selbst herstellen), keine Transfette (bei Vermeidung gehärteter Fette), keine entzündungsförderliche Arachidonsäure, keine gichtfördernden Purine, keine Antibiotika-Rückstände, keine Eiterbestandteile, hormonähnliche Wachstumsfaktoren (die z. B. Krebswachstum fördern können) usw. zu uns.

Bei einer rein pflanzlichen, vollwertigen Ernährung nehmen wir vor allem komplexe Kohlenhydrate, absolut ausreichend Proteine, vor allem einfach und mehrfach ungesättigte Fettsäuren, einen höheren Gehalt an Mikronährstoffen (Vitamine, Mineralstoffe), Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe und Antioxidantien zu uns.

Weiterführend

Sabine Gräfe hat einen weiteren Beitrag zum Thema „Keime, Viren, Resistenzen: Die Folgen der Tierhaltung“ verfasst, in dem sie unter anderem die Ursachen der Übertragung zoonotischer Krankheiten erklärt. Den Blogeintrag findet ihr hier.

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