Wie aus der Milchkuh Nr. 89.016 Lina wurde

Rede von Sabine Gräfe  |  Foto: Hof Butenland

Wir alle können fühlen.

Wohlbehagen. Freude. Schmerz. Trauer. Angst.

Auch, wenn wir das nur subjektiv wahrnehmen können, würde niemand auf die Idee kommen, jemand anderem die Fähigkeit zu fühlen abzusprechen.

Noch vor 380 Jahren waren wir der Ansicht, dass alleine Menschen Gefühle haben und fühlen können. Mit großer Ignoranz hat René Descartes Versuche an Hunden durchgeführt und ihre Schmerzensschreie nur als das Quietschen einer Maschine empfunden.
Diese überhebliche Arroganz haben wir grundsätzlich abgelegt.

Niemand, der heute einen Hund jaulen hört, würde etwas anderes annehmen, als dass dieser Hund sich in zumindest einer sehr unangenehmen Situation befindet. Die meisten würden es sogar direkt auf den Punkt bringen und sagen: Dieser Hund leidet.

Wir haben unsere Wahrnehmung immer mehr erweitert.

Wir sehen Tiere nicht mehr als Bioroboter, sondern erkennen fühlende Mitgeschöpfe, die Familie und Freunde haben, manch anderem nicht aufs Fell gucken können und die sowohl Gefühle wie Freude, Angst, Trauer und Liebe haben als auch fühlen können.

Wir stellen heute nicht mehr in Frage, ob ein Tier Schmerzen empfinden kann.

Als Gesellschaft haben wir beschlossen, Tiere nicht mehr als Sachen zu betrachten und sie und ihre Rechte auf körperliche Unversehrtheit durch ein Gesetz zu schützen. Vor uns und unserem Umgang mit Schwächeren.

Würde genau jetzt jemand hier seinen Hund treten, ihm Schwanz, Ohren, Zähne oder andere Körperteile abschneiden oder ihn gar prügeln, mit Elektroschockern treiben, ihm eine Stromzange an den Kopf halten oder ihm die Kehle aufschlitzen … jeder von uns würde ohne zu zögern einschreiten und den Hund beschützen.

Und was würden wir machen, wenn das da vorne kein Hund wäre, sondern ein Rind, ein Schwein, eine Pute oder ein Fisch? Immer mehr Menschen würden auch hier handeln oder sich zumindest sehr unbehaglich fühlen. Weil sie dann doch spüren, dass es nicht richtig ist, was sie sehen.

Wir würden Gewalt gegen Tiere ablehnen und einschreiten. Wenn sie vor unseren Augen passiert. Aber was ist, wenn diese Gewalt hinter Mauern stattfindet?

Ich kenne kaum ein Gesetz, das so wenig umgesetzt wird, wie das zum Schutz der Tiere. Für die sogenannten Nutztiere wurde darüber hinaus ein langer Katalog an Ausnahmen geschaffen.

Für ein paar willkürlich ausgesuchte Tiere gilt unser Verständnis für ihre Bedürfnisse und ihr Fühlen nicht. Wir erlauben uns einen Umgang, den wir bei einem Hund als Misshandlung mit strafrechtlichen Konsequenzen ansehen würden.

Trotzdem ist selbst der große Katalog an Erlaubtem bei den von uns so genannten Nutztieren kein Freifahrtsschein für Vernachlässigung, Misshandlung und Quälerei.

Um ein Mindestmaß an Schutz zu gewährleisten, haben wir Kontrollorgane. Aber leider sehen wir immer wieder, dass die Behörden versagen. Allzu oft sind sie blind und taub.

Tiere, die unter unserem Schutz stehen, werden unter der Aufsicht der zuständigen Behörden zu Produktionseinheiten, zu Biorobotern, die rein nach wirtschaftlichen Aspekten betrachtet werden und denen zumeist sogar die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse verwehrt wird.

Was es uns so leicht macht, dabei wegzusehen, ist die Anonymität der Opfer. Es sind so unzählig viele, dass wir ihr Schicksal gar nicht mehr wahrnehmen.

Ich will diesem Heer von Namenlosen ein Gesicht geben.

Eine Kuh. Sie kommt als Nr. 89.016 auf die Welt.
Ihr Schicksal wurde bereits vor ihrer Geburt besiegelt. Sie wird eine Milchkuh.

Direkt nach der Geburt wird sie von ihrer Mutter getrennt. Die Mutter ruft verzweifelt nach ihr. Und auch sie ruft. Aber sie sieht ihre Mutter nie wieder.

Nr. 89.016 ist einsam, ängstlich und traumatisiert. Sie sucht ihr Leben lang nach Trost, indem sie immer wieder versucht, durch Trinken bei anderen Kühen Halt und Geborgenheit zu bekommen.

Das passt aber nicht in das System. Ihr wird deshalb ein Stachelring in die Nase gesetzt. Versucht sie nun zu trinken, pikst sie in das empfindliche Euter und wird weggescheucht.

Die anderen meiden sie. In diesem ohnehin trostlosen Leben sind Kühe wie Nr. 89.016 zusätzlich von Sozialkontakten abgeschnitten und sehr einsam.

Nr. 89.016 hatte einige Kinder. Kinder, die sie nur ganz wenige Momente nach der Geburt erleben konnte, bevor sie ihr weggenommen wurden.

Nr. 89.016 hat 6 Jahre in diesem System der Ausbeutung überlebt. Sie kann nicht mehr. Ihre Ausbeutung und gleichzeitige Vernachlässigung haben sie unwirtschaftlich werden lassen.

Sie wird an Ketten aus dem Stall gezogen und im Garten, fernab der Straße neben einem Graben abgelegt. Ob sie noch in den Graben geschoben wurde oder ob sie auf der verzweifelten Suche nach Wasser hineingerutscht ist, bleibt unklar.

Nr. 89.016 wird von jemandem entdeckt und aus dem Graben geborgen. Sie ist völlig entkräftet und gebrochen.

Der Tierarzt stellt fest, dass sie hochschwanger ist und die Wehen begonnen haben. Sie leidet unter Milchfieber, hat einen aufgegasten Pansen und massive Spuren erheblicher Vernachlässigung und Misshandlungen wie Abdrücke von Ketten, großflächig wundgelegene Stellen mit teilweise schon nekrotischem Gewebe, Abschürfungen, alte und neue Hämatome usw.

Eine normale Geburt ist nicht möglich. Die Gebärmutter ist verdreht und das Kalb aufgrund der Zucht viel zu groß für die zarte Kuh. Ihre kleine Tochter muss deshalb mit einem Kaiserschnitt geholt werden.

Aufgrund der Vernachlässigung und Unterversorgung der Mutter ist auch ihre Tochter mangelversorgt und der Kampf um die kleine Mia ist nach 22 Stunden verloren.

Für die Mutter bricht der letzte Lebenswille weg. Aber ganz langsam beginnt sie zu begreifen, dass diese Menschen es gut mit ihr meinen. Sie bekommt eine intensive ärztliche Versorgung, es beginnt eine Freundschaft zu einer anderen jungen Mutter, die nahezu buchstäblich mit ihrem nur wenige Tage alten Sohn vor dem Transport in den Schlachthof bzw. zum Mäster bewahrt wurde.

Die Zuwendung, die Liebe, die Leckerlis und die Fürsorge lassen die zarte Kuh wieder Lebensmut fassen.

Aber die Spuren ihrer bisherigen Existenz sind zu viele und sie sind zu groß.

Nach 3 Wochen hat sie den Kampf verloren und es gibt für sie nur noch die letzte Hilfe.

3 Wochen, in denen sie als fühlendes Wesen, als ein Jemand und nicht als ein Etwas betrachtet wurde.

3 Wochen, in denen aus Nr. 89.016 endlich ein Wesen wurde, eine Person, die als solche anerkannt und geachtet wurde.

Du lebtest nur 6 Jahre.

In den letzten 3 Wochen wurdest Du als eine Seele erkannt und bekamst einen Namen. Er war Lina.

Ein Name, der nur sehr kurze Zeit in Deine Ohren drang, die bisher wohl kaum ein liebes Wort gehört haben.
Und schon gar nicht einen Namen, der beinhaltet, dass man in Dir ein Gegenüber, ein fühlendes Wesen erkannt hat.
Deine Ohren haben bisher nur dafür herhalten müssen, eine Marke zu tragen. Als Ausdruck der Sklaverei, in die Du hineingeboren wurdest. In der Du irgendwie überlebt hast, bis Du weniger als ein Drittel Deiner eigentlichen Lebenszeit erreicht hast.
In dieser Zeit musstest Du so viel Leid aushalten. Mehr als Du ertragen konntest.

Und doch hat Dein Körper immer weiter ausgehalten.
Obwohl Dein Herz zerrissen wurde, jedes Mal, wenn Dir wieder ein Kind genommen wurde.
Wenn Du grob behandelt wurdest, Dir nicht einmal Deine Grundbedürfnisse erfüllt wurden, Du mit Ketten umhergeschleift wurdest.

Und Du nicht verstehen konntest, was Du und all die anderen verbrochen haben, um in so einer Hölle sein zu müssen.
Du wurdest aus dieser Hölle gezerrt und zum Sterben weggeworfen. Wie so viele, bei denen es niemand sieht. Und wurdest gerettet von Menschen, die es gut mit Dir meinten. Dein Herz hat gespürt, dass sie um Dich kämpfen, damit Du das Paradies nicht nur schauen, sondern auch für den Rest Deines Dir zustehenden Lebens genießen könntest. Du hast sogar angefangen, diese Menschen zu mögen.

Wie unglaublich groß ist Dein Herz gewesen, dass Du es nach all dieser Quälerei trotzdem wieder öffnen konntest für Menschen.
Lina, Du warst nur ganz kurz mein Patenrind. Aber du wirst für immer in meinem Herzen bleiben. Als ein unglaublich tapferes Wesen, dass leider schon verloren hatte, als es auf diese Welt kam.

Lina ist eine von vielen. Ein Mahnmal, das nicht vergessen wird. Eines von vielen anderen, deren Schicksal öffentlich wurde. Seien sie aus Orten wie Dietmannsried, Demker, Bad Grönenbach, Syke oder sonstwo. Ihre Namen lauten Lina, Hope, Hilla, Gisela, Jette oder Maret. Die Liste ist lang. Und die Liste derer, die Zeit ihres Lebens nur eine Nummer sind, ist endlos.

Der Hof, von dem Lina stammte, ist den Behörden lange bekannt. Dort wurde sogar Tierquälerei festgestellt. Aber es gab keine Konsequenzen. Denn es wurde angenommen, dass die Vernachlässigungen und Misshandlungen nicht vorsätzlich passieren.
Es sind zahllose Tiere, die wir nicht sehen. Ganz bewusst existieren und sterben sie hinter Mauern. Es wird mit allen Mitteln versucht, die Umstände ihrer Ausbeutung von Anfang bis Ende zu verstecken und nach außen nur verniedlichende Darstellungen dringen zu lassen.

Wir alle haben ein System akzeptiert, in dem ein Teil der Tiere nur als Zutat oder lebendes Material angesehen wird. Wir alle haben uns keine Gedanken um ein System gemacht, in dem ich Lobbyismus, Seilschaften und Filz wahrnehme.

Tiere sind Personen. Wir schulden ihnen nicht eine bessere Quälerei, einen schöneren Tod, ein paar Zentimeter mehr Platz, sondern das Anerkennen ihrer Bedürfnisse, ihrer Fähigkeit zu fühlen und ihres Rechtes auf körperliche Unversehrtheit.

Die Politik reagiert meist sehr schwerfällig. Die gute Nachricht ist, dass wir nicht auf die Politik warten müssen. Jeder kann jederzeit ohne Schwierigkeiten aus diesem System aussteigen und aufhören, in Tieren etwas anderes zu sehen als fühlende Wesen.

Wir können gut und gesund leben, ohne ihnen Schaden oder Leid zuzufügen. Lasst uns also aufhören, sie als Lebensmittel zu betrachten und sagen:
Nicht mehr in meinem Namen.

 

Rede auf YouTube

Die emotionale Rede von Sabine kannst du dir auch auf YouTube als Video angucken: hier den externen Link öffnen

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