Text: Sebastian Höll  | Foto: Kerstin Brandt  

Vegan Straight Edge: Selbstkasteiung oder Frage des Respekts?

„Aber Vegan hat nichts mit Straight Edge zu tun.“ Diese Aussage hört man recht oft. Straight Edge hat seinen Ursprung im Hardcore-Punk der frühen 80er Jahre als einige Jungendliche den Drogen- und Alkoholkonsum der damaligen Punkszene vor Augen, begannen, sich von dem Rauschmittel dominierten Lifestyle vieler Punks zu distanzieren. Die „gerade Kante“ oder treffender „klare Linie“, was Straight Edge frei ins Deutsche übersetzt heißt, ist also von Anfang an ein Teil einer subversiven und kritischen Jugend- und Subkultur, die bis heute Bestand hat. Symbol dieser Bewegung ist das „X“, das Minderjährigen in den Bars von Los Angeles auf den Handrücken gemalt wurde. Mit dieser Kennzeichnung sollte sichergestellt werden, dass ihnen kein Alkohol ausgeschenkt wurde. Sie wurde von der Straight-Edge-Szene adaptiert, um ihren freiwilligen Verzicht auf Rauschmittel auszudrücken. Dieses Symbol wird bis heute benutzt und alle Straight Edger eint der Verzicht auf sämtliche Rauschmittel, Tabak und Alkohol sowie Sex mit häufig wechselnden Partnern. Don’t smoke, don’t drink (don’t do drugs), don’t fuck around. Drei mal XXX.

Moment mal… don’t fuck?! Darf man jetzt kein Sex mehr haben oder was? Trinken auch nicht? Wieso tut man sich das an?
Nein, es geht nicht darum, auf Sex zu verzichten und es geht auch nicht darum, im Leben nur mit einem Menschen Sex zu haben. Ich verstehe es als Frage des Respekts. Wenn mir die Meinung und die Integrität eines Menschen am Herzen liegt und wenn ich einen Menschen respektiere, dann will ich diesen Menschen nicht zu einem potenziellen „One Night Stand“ degradieren. Wenn ich mein Gegenüber nur als ein Stück Fleisch betrachte, wird ein „Zusammenhalt“ innerhalb einer Szene oder Bewegung oder auch einer Gesellschaft schwierig. Deshalb finde ich es sehr sinnvoll, sein Leben, nicht allein darauf zu verwenden, möglichst viele sexuelle Abenteuer zu haben. So denke ich zumindest heute.

Klar, vor Jahren, schien mir das Konzept dieser Straight Edge Bewegung sehr suspekt. Schließlich verzichten sie nicht nur auf sämtliche Rauschmittel, sondern essen auch kein Fleisch und als ob das nicht schon reichen würde, haben nicht wenige beschloßen, auch vegan zu leben. Puh, da fragt man sich schon, warum diese Selbstkasteiung? Warum diese religiös anmutenden Lebensregeln, diese Askese? Im Leben geht es doch um Genuss, darum, jeden Moment auszukosten und nicht darum zu darben und sich selbst einzuschränken. Oder?

Und es stimmt, Straight Edge hat erstmal nichts mit Veganismus zu tun und es gibt heute noch einige Edger, die nicht vegan leben. Aber für mich ist Veganismus die logische Folge meines drogenfreien Lebens.

Denn bei Straight Edge geht es nicht um Verlust oder Verbote, es geht um Gewinn. Es geht um Selbstbefreiung und nicht um Einschränkung. Es geht darum, sich wieder frei wie ein Kind zu fühlen und auf seine vollen geistigen Ressourcen zugreifen zu können, sich morgens nicht darum zu kümmern, wo ich meine Zigaretten herbekomme, wo ich Alkohol herbekomme, wie ich meinen Kater bekämpfe, wo ich das Geld für Drogen herbekomme oder was ich anstellen muss, um das Mädel oder den Jungen, der mir eigentlich gar nichts bedeutet, ins Bett zu bekommen. Es geht darum, eine riesige Last loszuwerden und darum, sich nicht selbst kaputt zu machen und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.

Aber warte mal? Das klingt doch alles ganz ähnlich auch beim Veganismus. Geht es beim Veganismus nicht auch um Befreiung? Geht es nicht auch um Verantwortung? Als ich begonnen habe, mich von Drogen und Alkohol zu befreien, habe ich nach langer Zeit mal wieder angefangen, meine Position in der Welt zu hinterfragen. Ich habe wieder begonnen, über meine Verantwortung nachzudenken. Für mich und meine Gesundheit und meine Umgebung. Für mein ganzes Leben eben. Mir wurde wieder bewusst, dass meine Verantwortung bei mir nicht aufhört, sondern allem gelten sollte, mit dem ich in Berührung komme. Wie konnte ich aber meiner eigenen Befreiung so viel Wert beimessen, wenn mir die Freiheit anderer gänzlich egal ist?

Ich will nicht, dass Menschen für mich leiden, warum akzeptiere ich dann, dass Tiere es tun. Wie kann ich von Verantwortung reden und andere Tiere für mein eigenes vermeintliches Wohlbefinden leiden lassen. Nein. Das passte nicht zusammen.

Ich wollte kein „halbe-Sachen-Mensch“ sein. Ich wollte ein ganz oder gar nicht-Typ sein. Ich wollte mich nicht nur vegetarisch ernähren, ich wollte von nun an vegan leben. Tatsächlich hat dieser Schritt eine ähnlich einschneidende Wirkung auf mein Leben gehabt, wie der Verzicht auf Suchtmittel. Es war eine Befreiung. Es schloss sich eine Tür und es öffnete sich ein ganzes Universum an Möglichkeiten. Überall gab es neue interessante Lebensmittel, interessante Perspektiven und Personen zu entdecken. Ich beschäftigte mich auf einmal viel mehr mit dem, was ich aß und dieses bewussteres Essen hat auch mein Wohlbefinden deutlich steigern können. Alles bekam wieder einen Wert. Denn es musste vegan sein und am besten Fair Trade und Bio, aber auf jedenfall vegan. Ist etwas nicht vegan, dann ist es für mich auch nichts, woran ich Freude habe. Es ist dreckig, es ist schmutzig. Es ist ein Produkt des Leidens, wie Blutdiamanten. Nicht nur manchmal, sondern immer.

Denn es ist falsch, etwas mit Bewusstsein und mit Gefühlen, Wünschen und Gedanken, zu einem Produkt zu machen. Es ist falsch, ein Lebewesen zu zwingen, ein Produkt herzustellen, das eigentlich seiner Fortpflanzung dient oder der Ernährung seiner Kinder und es ist auch falsch, den Tieren ihre frisch geborenen Kinder zu stehlen.

Aber nichtsdestotrotz ist die größte Befreiung am Veganismus das Abladen der tonnenschweren Last des eigenen schlechten Gewissens, das bis dahin immer auf meinen Schultern lastete. Ein Gewicht, dessen Bürde ich mir lange gar nicht bewusst war.
Diese Last ist dem Auftrag der Verantwortung gewichen, den ich nun spüre. Dem unbedingten Willen, dem wundervollen, facettenreichen Leben auf diesem Planten seinen Raum zurück zu geben, die „Nutztiere“ aus ihrer Sklaverei für den Menschen zu befreien und das unvorstellbare Leid zu beenden, welches wir Menschen den Lebewesen auf dieser Erde anzutun bereit sind. Ja, vegan hat definitiv etwas mit Gewinn zu tun. Veganismus heißt nicht verzichten. Es bedeutet Freiheit. Was ist meine Freiheit wert, wenn ein anderes Tier einfach so konsequenzlos versklavt werden kann? Was sagt das über meine eigene Freiheit aus?

Deine Unfreiheit kann nicht Fundament meiner Freiheit sein und meine Unfreiheit darf nicht deine Freiheit sein.
Für mich ist meine Freiheit so wichtig wie deine und die einer Kuh und deshalb bin ich nicht Straight Edge, sondern Vegan Straight Edge. Self Liberation! Animal Liberation! Total Liberation!

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