Speziesismus und ein möglicher Zugang zur Bewusstwerdung
Text: Michaela Pohl | Foto: joshuaentis.com
Als ich anfing, vegan zu leben, hat mich in meinem Bewusstwerdungsprozess am meisten berührt, dass ich viel Diskriminierungsverhalten bei mir selbst entdeckt habe. Aus meinem Alltag kannte ich bereits mehrere Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus und auch Antisemitismus. Sie waren mir geläufig oder zumindest hatte ich schon einmal von ihnen gehört und wusste, dass es diese Formen von Diskriminierung gibt. Durch meine Arbeit sind mir auch Ableismus und Adultismus geläufig; die Diskriminierung aufgrund von Fähigkeiten („Behinderungen“) und aufgrund des Alters (insbesondere das Verhältnis Erwachsener zu Kindern). Ich arbeite seit Jahren sehr intensiv an der Bewusstwerdung dieser beiden Diskriminierungsformen und dennoch war ich erschrocken, dass ich selbst diskriminierend, also speziesistisch, unterwegs war. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass ich vor über zwanzig Jahren drei Jahre lang als Vegetarierin lebte und damals schon für Tierrechte eintrat. Diese Erkenntnisse musste ich erst einmal verarbeiten.
Veganismus ist ein Prozess, ein intensiver Prozess der Bewusstwerdung.
Speziesismus ist eine Diskriminierungsform, über die noch nicht so intensiv gesprochen wird. Hierbei findet Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies statt. Beim Speziesismus steht das Verhältnis zwischen Mensch und Tier im Mittelpunkt. Der Mensch sieht sich dem Tier als überlegen an und sieht sich dadurch im Recht, Tiere für seine eigenen Zwecke zu gebrauchen. Tiere dienen dem Menschen in einer Selbstverständlichkeit als Nahrungsquelle, zur Herstellung von Kleidung und Schuhen, zum Freizeitvergnügen (z. B. Zoos und Zirkusse), für medizinische Zwecke und auch zum Geldverdienen (z. B. Schweine- und Geflügelmast, Hochleistungsmilchkühe). All dies nehmen wir als normal, notwendig und natürlich an. Doch ist dies auch wirklich so? Diese Frage beschäftigte mich sehr.
Ich fand heraus, dass alle Diskriminierungsformen ein paar Punkte gemeinsam haben, die mir wichtig sind. Es gibt eine Mehrheitengruppe, die aufgrund von Privilegien und Macht in der Lage ist, eine Minderheitengruppe auszubeuten, die bestimmte Merkmale aufweist (Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie, Alter, Spezies usw.). Diese Merkmale sind willkürlich festgelegt worden. Das zu begreifen, hat mich erst einmal sehr traurig werden lassen. Diskriminierung hat auch eine eigene Sprache, die die Ausbeutung der Minderheitengruppe verschleiert. Die Diskriminierung wird unsichtbar gemacht durch bestimmte Wortwahl. So sind beim Speziesismus z. B. Wörter wie Mutter, schwanger, gebären nur den Menschen vorbehalten; bei Tieren muss das Sau, Kuh usw. heißen, tragend und werfen. Verwende ich die menschlichen Worte für Tiere, entstehen bei vielen Menschen „komische Gefühle“, es fühlt sich unnormal an und nicht selten höre ich den Vorwurf, ich würde Tiere vermenschlichen. Nein. Mir geht es um die Bewusstwerdung, dass Diskriminierung ganz eigene Strukturen hat, die es zu erkennen und aufzulösen gilt. Mir ist es wichtig, mich in einem Prozess von immer mehr Diskriminierungsverhalten zu lösen. Das ist Teil meiner Integrität.
Normal, notwendig und natürlich ist für uns der Gebrauch von Tieren nicht, weil dies wirklich normal, notwendig und natürlich ist, sondern weil die Diskriminierung so großflächig angelegt und so intensiv durch Erziehung tradiert und in unseren Köpfen konditioniert ist, dass es uns so vorkommt, als sei all dies normal, notwendig und natürlich. Ist es aber nicht.
Es sind – schaut man sich Diskriminierung einmal genauer an – künstlich konstruierte Kategorien. Diese Kategorien werden nicht hinterfragt; wir wachsen mit ihnen auf und unsere Psyche nimmt diese Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Handeln als Normalität an. So war es auch bei mir. Nur so konnte ich nach drei Jahren als Vegetarierin wieder zurück in den Gebrauch von Tieren. Etwas, was ich mir bis heute nur schwer verzeihen kann und doch macht es deutlich, welche Wirkmacht Konditionierung in gesellschaftlichen Strukturen hat.
Berührt nun jemand von außen diese psychische Normalität – wie z. B. eine andere Wortwahl oder auch ein konkretes Ansprechen auf Diskriminierungsverhalten – wird das, was als normal, natürlich und notwendig befunden wird, sehr intensiv verteidigt. Ein psychisch völlig normaler Vorgang. Bewusstwerdung ist daher nicht so einfach, Bewusstheitsarbeit recht schwer. Auch ich lachte noch vor ein paar Jahren vegan lebende Menschen aus, wenn sie mich direkt auf mein Verhalten ansprachen. Nicht, weil das, was sie sagten, falsch war, sondern weil sie den Finger in meine Wunde legten. Tief in mir drin wusste ich, dass es moralisch falsch war, mich an dem Leid von Tieren zu beteiligen. Mir blieb psychisch nichts anderes übrig, als mich lustig zu machen, um nicht die Traurigkeit und den Schmerz zu fühlen, den die Erkenntnis über mein eigenes Handeln in mir auslöste. Diese Erinnerung ist heute noch von einem tiefen Bedauern begleitet, auch wenn ich weiß, dass dies normales Abwehrverhalten ist.
Wie können wir, für die es eine Herzensangelegenheit ist, auf Diskriminierungshandeln hinzuweisen, nun an Menschen herantreten? Wie können wir Menschen, die es gewohnt sind, Tiere als Objekte zu sehen, die beliebig für die eigenen Interessen benutzt werden können, bewusst machen, dass auch Tiere fühlende Lebewesen sind, die ihre eigenen Rechte auf Unversehrtheit, Würde, Wohlergehen, ja sogar Recht auf das Leben selbst haben?
Das ist eine spannende und zugleich schwierige Frage. Die menschliche Psyche ist geschickt in seiner Abwehr und Gewohnheiten zu verändern ist nicht einfach. Das habe ich selbst erlebt und noch nicht vergessen. Deswegen ist es für mich wichtig, nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen zu sehen und eine Form von Aktivismus zu leben, die für mich Achtsamkeit und Wirksamkeit gleichzeitig zu erfüllen vermag.
Die Cubes of Choice (Würfel der Wahl) sind m. E. eine gut geeignete Methode, um sehr achtsam an Menschen heranzutreten, ihnen das Thema Speziesismus und Ausbeutung von Tieren nahe zu bringen und gleichzeitig die menschliche Psyche so zu achten, dass die Abwehr gering ist.
Wir zeigen Bildmaterial, das dem wirklichen Alltag von Tieren entspricht. Sei es das Schicksal der Meerestiere, wo ganze Ozeane leergefischt werden, die Tristesse von Schweinen, wo Säue keinen Kontakt zu ihren Ferkeln haben können, das Leben der Milchkühe als Hochleistungsmaschinen, die vor lauter Euter kaum noch laufen können oder auch das Leid von Geflügel, die aufgrund von Turbomast ihren eigenen Körper nicht mehr tragen können. Das sind Realitäten, die versteckt werden. Das ist die Normalität hinter den Kulissen, die keiner sehen mag. Wir machen sie sichtbar; ohne Megaphone und laute Sprechchöre, sondern in stiller Präsenz. Leise, unaufdringlich, einladend. Ich liebe es, Räume aufzumachen, in die andere Menschen in Freiwilligkeit eintreten können, in denen sie sich einlassen und nachdenklich werden dürfen. Ein sanfter und gleichzeitig wirkungsvoller Zugang zu Bewusstheitsarbeit.
Diskriminierung wird uns meist erst dann bewusst, wenn wir die Verbindung herstellen können zu den Angehörigen der Minderheitengruppe. Viele Menschen laufen am Cube of Choice vorbei, wollen die Bilder nicht sehen, weil sie so viel Leid beinhalten. Keiner will dieses Leid und jeder ist davon berührt. Doch leider nicht berührt genug, um das eigene Verhalten zu überdenken oder gar zu verändern. An dieser Stelle laden wir ein, zu einem Moment des Innehaltens, des Stehenbleibens und Wahrnehmens, des Hineinspürens in die Lebenswelt derer, deren Welt wir gestalten. Wir laden ein zu einem Gespräch über unser Verhalten den Tieren gegenüber. Wir wollen einen Raum öffnen, in dem alte Gewohnheiten und Traditionen auf echte Notwendigkeit hinterfragt werden dürfen. Wir laden ein, die Verbindung herzustellen zwischen Mensch und Tier, um Speziesismus zu erkennen; damit Tiere nicht mehr länger als Objekte gesehen werden, sondern als das, was sie sind – fühlende Lebewesen, die in Freiheit und Wohlgefühl leben wollen.